Drei Auswirkungen des Lehman-Konkurses auf die Märkte

BIS Quarterly Review  |  December 2008  | 
15. Dezember 2008

(Auszug der Seiten 19-21 vom BIS Quarterly Review, Dezember 2008)

Am 15. September 2008 beantragte Lehman Brothers Holdings Inc. (LBHI) Gläubigerschutz nach US-Insolvenzrecht (Chapter 11) und meldete konsolidierte Bank- und Anleiheverbindlichkeiten in Höhe von über $ 600 Mrd. Wenige Tage später übernahm Barclays die Broker-Dealer-Tochtergesellschaft von Lehman in den USA. Dies war der erste Insolvenzfall einer bedeutenden Investmentbank seit dem Zusammenbruch von Drexel Burnham Lambert im Februar 1990. Die Probleme von Lehman hatten ihren Ursprung in umfangreichen Verlusten und hohen Abschreibungen bei notleidenden Aktiva sowie in der Sorge, dass künftige Verluste die bisherigen Bemühungen von Lehman zur Verbreiterung der Eigenkapitalbasis zunichte machen würden (Grafik A Mitte). Der Konkurs warf daher erneut Fragen hinsichtlich der stark fremdfinanzierten Bilanzen der Investmentbanken und ihrer entsprechenden Abhängigkeit von Finanzierungen am Grosskundenmarkt auf, wie sie sich bereits anlässlich des Beinahezusammenbruchs von Bear Stearns Anfang 2008 gestellt hatten. Als dann das Vertrauen in den Fortbestand von Lehman schwand (Grafik A links), war dem Institut auch der Zugang zum Grosskundenmarkt versperrt und die Insolvenz unvermeidlich.1

Angesichts der Grösse des Unternehmens und seiner zentralen Position als Händler und Kontrahent an zahlreichen Finanzmärkten zog ein Ereignis von solcher Bedeutung zwangsläufig weite Kreise. In diesem Kasten werden drei konkrete Auswirkungen der Lehman-Insolvenz auf die Märkte untersucht, die das Potenzial hatten, systemweite Liquiditätsengpässe nach sich zu ziehen: 1) die Auswirkungen auf den CDS-Markt, 2) die Schliessung von Geldmarktfonds aufgrund von Verlusten aus Forderungen an Lehman und 3) die Folgen des Konkurses für die Prime-Brokerage-Kunden des Unternehmens.

(1) CDS-Markt

In den Tagen um den Insolvenzantrag standen die möglichen Auswirkungen eines Lehman-Konkurses auf den $ 57,3 Bio. umfassenden CDS-Markt2 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Besonderen Anlass zu Besorgnis gab die zentrale Rolle von Lehman als wichtiger Kontrahent und Referenzschuldner an diesem Markt. Bekannt war, dass ein Insolvenzantrag zwei unmittelbare Auswirkungen haben würde: Zum einen würden Ausfallklauseln in auf Lehman referenzierten CDS-Kontrakten ausgelöst, und zum anderen würden die Kontrakte mit Lehman als Gegenpartei beendet. Man ging davon aus, dass Netting, Abwicklung und Ersatz der betroffenen Positionen mit operationellen Risiken verbunden sein würden. Wichtiger war jedoch, dass zum Zeitpunkt des Insolvenzantrags verlässliche, öffentlich zugängliche Informationen zum Gesamtvolumen der auf Lehman referenzierten CDS-Kontrakte und zu den für einen Ausgleich erforderlichen Nettobeträgen fehlten. Dieses Informationsdefizit führte zu grosser Unsicherheit hinsichtlich der Fähigkeit der ohnehin angespannten Geldmärkte, den hieraus zu erwartenden Liquiditätsbedarf zu decken.

Es gab verschiedene Initiativen, der Situation und der Unsicherheit Herr zu werden: Erstens wurde für Sonntag, den 14. September, unmittelbar vor dem Insolvenzantrag, eine Notfallhandelssitzung angesetzt. Sie sollte den wichtigsten CDS-Händlern die Möglichkeit geben, durch Netting ihre Kontrahentenpositionen gegenüber Lehman abzuwickeln und durch Ersatzgeschäfte ihre Bilanzen zu bereinigen. Zweitens wurde am 10. Oktober gemäss festgelegten Verfahren der ISDA (International Swaps and Derivatives Association) eine Auktion unter CDS-Händlern durchgeführt, um die Rückflussrate zu ermitteln, die beim Barausgleich der auf Lehman referenzierten CDS-Kontrakte zur Anwendung kommen sollte, und damit die Höhe der auszuzahlenden Beträge.3 Drittens gab die DTCC (Depository Trust and Clearing Corp.) bekannt, dass sie das Volumen der offenen solchen CDS-Kontrakte auf $ 72 Mrd. beziffere und die entsprechenden Nettoausgleichszahlungen auf $ 6 Mrd. schätze. Am 21. Oktober wurden schliesslich Nettozahlungen in Höhe von $ 5,2 Mrd. auf diese Kontrakte vorgenommen (Grafik A rechts). Diese verhältnismässig geringen Volumina hatten zum Zeitpunkt der Abwicklung keine spürbaren Auswirkungen auf die Liquiditätslage mehr, doch dürfte die vorherige Unsicherheit bezüglich dieser Forderungen zu der Volatilität an den Geldmärkten nach dem Insolvenzantrag beigetragen haben. Zusätzliche Belastungen durch einen möglichen Zusammenbruch der Versicherungsgesellschaft AIG konnten ihrerseits nur durch eine staatliche Rettungsaktion abgewendet werden.

(2) Geldmarktfonds

Eine wichtige Finanzierungsquelle für Lehman war die Ausgabe von Commercial Paper und anderen Formen kurzfristiger Anleihen. Für Geldmarktfonds waren diese Titel aufgrund ihrer hohen Ratings und Zinsaufschläge gegenüber US-Staatspapieren attraktiv. Zudem fühlten sich die Anleger in Geldmarktfonds vor dem Verlust ihres Kapitals sicher, weil die Fondsmanager aufsichtsrechtlichen Beschränkungen unterworfen waren und in der Vergangenheit Verluste hatten vermeiden können.

Nach dem Lehman-Konkurs unternahmen 25 Geldmarktfonds Schritte, um ihre Anleger gegen Verluste aufgrund von Lehman-Engagements abzusichern. Dennoch fiel der Nettoinventarwert eines öffentlichen Geldmarktfonds, Reserve Primary, unter $ 1,00 je Anteil. Infolgedessen wurde der Fonds liquidiert, und Ausschüttungen an die Anleger erfolgten bar, entsprechend dem Zustrom von Barmitteln bei Fälligkeit von Titeln im Portfolio oder bei deren Verkauf.

Die Liquidation von Reserve Primary führte zu massiven Rückgaben von Anteilen bei anderen US-Geldmarktfonds, insbesondere bei sog. Prime-Funds, die in Commercial Paper investieren. Um den Run auf diese Geldmarktfonds zu stoppen, legte das US-Finanzministerium ein befristetes Garantieprogramm für Anleger in Geldmarktfonds auf. Die Federal Reserve schloss sich mit Rettungsprogrammen an, die auf einen direkten Ankauf von Commercial Paper und kurzfristigen Anleihen aus dem Bestand der Geldmarktfonds abzielten (s. Kasten 2 zu staatlichen Rettungsprogrammen)

(3) Prime-Brokerage-Geschäft

Lehman wurde als globales Unternehmen geführt, was insbesondere die Zentralisierung seiner Finanzierungsaktivitäten in den USA mit sich brachte. Trotz der globalen Struktur des Unternehmens wurden von Lehman-Niederlassungen ausserhalb der USA und dem Mutterunternehmen in New York getrennte Insolvenzanträge gestellt. Die Antragstellung in verschiedenen Ländern machte die Lehman-Insolvenz zum ersten wirklich globalen Konkurs eines grossen und komplexen Finanzinstituts. Die Komplexität des Lehman-Geschäfts und die Übernahme der Broker-Dealer-Tochtergesellschaft in den USA unmittelbar nach dem Insolvenzantrag warfen Fragen bezüglich unterschiedlicher Rechtsverfahren in verschiedenen Ländern für ein insolventes Unternehmen auf, das zuvor auf der Basis globaler Produktstrategien geführt worden war. Die entsprechenden Probleme werden u.a. beim Prime-Brokerage-Geschäft von Lehman deutlich.

Lehman war Prime-Brokerage-Dienstleister für eine grosse Zahl von Hedge-Fonds. Im Rahmen dieser Prime-Brokerage-Beziehungen platzierten Hedge-Fonds Anlageaktiva bei den Broker-Dealer-Einheiten von Lehman in verschiedenen Ländern. Diese Aktiva, die als Sicherheit für Finanzierungen hinterlegt wurden, konnten dann im Rahmen einer Weiterverpfändung („rehypothecation") von Lehman wiederverwendet werden, um eigene Verpflichtungen zu erfüllen. Durch die Insolvenz von Lehman verloren viele seiner Prime-Brokerage-Kunden für die Dauer des Insolvenzverfahrens plötzlich ihren Zugriff (und möglicherweise zum Teil auch ihren Anspruch) auf die als Sicherheit hinterlegten Werte. Somit waren sie gezwungen, Positionen mit schwankendem Wert zu behalten, deren spätere Verfügbarkeit vom Ausgang diverser Rechtsverfahren und von vertraglichen Vereinbarungen in verschiedenen Ländern abhing. Soweit dies zu Anpassungen in Umfang und Ort der Geschäfte der Hedge-Fonds mit ihren Prime-Brokern führte, konnte die Umschichtung von Mitteln zwischen verschiedenen Ländern zusammen mit dem Bestreben, fremdfinanzierte Risikopositionen abzubauen, potenziell beträchtliche Verkäufe von Vermögenswerten und den Abzug von Mitteln vom jeweiligen Prime-Brokerage-Konto auslösen. Diese Transaktionen wiederum verstärkten dann noch den durch den Lehman-Konkurs entstandenen Druck auf die Finanzierungs- und Wertpapierleihemärkte.


1 Zu ähnlichen Fällen von mit einem Banken-Run vergleichbaren Effekten an den Finanzmärkten s. C. Borio, "Market distress and vanishing liquidity: anatomy and policy options", BIS Working Papers, Nr. 158, Juli 2004.
2 Das Volumen des CDS-Marktes wird gewöhnlich in Nominalwerten gemessen, wogegen sich die Wiederbeschaffungskosten besser durch den Bruttomarktwert erfassen lassen (Mitte 2008 geschätzt auf insgesamt 5,5% des nominalen Marktvolumens).
3 Im Auktionsverfahren, das nach dem Lehman-CDS-Protokoll der ISDA von 2008 durchgeführt wurde, wurde für die Lehman-Anleihen auf der Grundlage der von 14 Händlern übermittelten Gebote eine Rückflussrate von 8,625% ermittelt. Da die Lehman-Anleihen seit dem Insolvenzantrag laufend niedriger gehandelt wurden, lag der Auktionspreis nur unwesentlich unter den Anleihekursen direkt vor der Auktion, sodass das Risiko einer Marktkursdiskrepanz im Zusammenhang mit der Auktion begrenzt blieb.