Claudio Borio: Interview with Handelsblatt

Interview (only available in German) with Mr Claudio Borio, Head of the Monetary and Economic Department of the BIS, in Handelsblatt, conducted by Mr Jan Mallien and Mr Jakob Blume, and published on 26 June 2022.

BIS speech  | 
26. Juni 2022

Viele Notenbanken der Welt haben bereits die Zinsen angehoben, auch die EZB will bald handeln. Geldpolitik wirkt sich aber nur mit Verzögerung auf die Wirtschaft aus. Wann schlägt sich das auf die Inflation nieder?

Das ist schwer zu sagen, aber es dauert eine Weile. Höhere Zinsen reduzieren die Nachfrage und können den Wechselkurs stützen. Beide Effekte dämpfen die Inflation, aber es wird Zeit brauchen, bis sich das bemerkbar macht. Im Vergleich zu den 1970er Jahren dürfte die Geldpolitik heute jedoch schneller wirken, da die Finanzmärkte heutzutage ein grösseres Gewicht haben und schneller reagieren.

In Ihrem kürzlich veröffentlichten Jahreswirtschaftsbericht schreiben Sie, dass viele Volkswirtschaften aufgrund der hohen Verschuldung anfälliger für Zinserhöhungen geworden sind. Was genau meinen Sie?

Wir haben es mit einer beispiellosen Situation seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Es ist eine Kombination aus höher Inflation, die eine Straffung der Geldpolitik erfordert, und Verwundbarkeiten im Finanzsystem, wie etwa der sehr hohen Verschuldung und jahrelang stark gestiegenen Immobilienpreisen. In der Vergangenheit gab es Phasen hoher Inflation wie in den 1970er Jahren, die zu Rezessionen geführt haben, und es gab Krisen im Finanzsystem, die die gleiche Wirkung hatten. Aber dass beides gleichzeitig stattfand gab es nicht.

Sehen Sie eine Möglichkeit, die Inflation zu senken, ohne eine Rezession auszulösen?

Das ist ein schmaler Grat. Es hängt sehr stark von landesspezifischen Gegebenheiten ab. In den USA ist die Inflation hauptsächlich auf eine sehr starke Nachfrage und Konjunktur zurückzuführen. Dort macht sich der negative Schock höherer Energie- und Rohstoffpreise weniger stark bemerkbar. Die Euro-Zone und Großbritannien hingegen sind sehr stark von Energie- und Rohstoffimporten abhängig. Das bedeutet, dass die Preissteigerungen dort zu einem großen Einkommensverlust führen, was das Wachstum dämpft.

Wie groß ist die Gefahr einer Stagflation im Stil der 70er Jahre?

Die Situation ist nicht dieselbe. Die Volkswirtschaften sind weniger abhängig von Öl als in der Vergangenheit, der Inflationsschock ist geringer. Die Zentralbanken sind sich bewusster, was sie tun müssen. Aber die Bedingungen sind sehr schwierig. Es ist ein schmaler Grat.

Betrachtet man den Euro-Raum und andere Regionen, so sind der Haupttreiber der Inflation höhere Energiekosten. Eine einzelne Notenbank kann daran doch wenig ändern?

Das stimmt natürlich und höhere Energiekosten beispielsweise erhöhen das Risiko einer Rezession. Wenn aber, wie jetzt, die Geldpolitik weltweit gestrafft wird, dann werden auch die Rohstoffpreise sinken, weil sich die Nachfrage auf globaler Ebene abschwächt bzw. sinkt.

Wenn die Notenbanken die Inflation niedrig halten wollen, aber die Energiepreise nicht so stark beeinflussen können, müssen dann nicht die Preise für andere Güter sinken?

Sie müssen nicht sinken, aber sie sollten um weniger steigen. Der Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise, für sich selbst genommen, hat nur zeitweiligen Einfluss auf die Inflation. Eine sich selbst-verstärkende Preisdynamik entsteht erst, wenn sich Löhne und Preise gegenseitig hochschaukeln.

Besteht nicht das Risiko einer Ausweitung des Inflationsdrucks?

Ja. In unserem Jahreswirtschaftsbericht gehen wir davon aus, dass es zwei unterschiedliche Inflationsregime gibt. Wenn die Inflation sich auf einem niedrigen Niveau einpendelt, wird der Inflation durch die Bürger wenig Beachtung geschenkt, sie spielt bei den Lohnverhandlungen und beim Preissetzungsverhalten keine große Rolle. Dies gewährleistet eine allgemeine Stabilität. Der Fall ist jedoch anders bei hoher Inflation da es keine selbst-stabilisierenden Kräfte gibt. Der Übergang von einem Regime niedriger zu hoher Inflation kann eine sich selbstverstärkende Dynamik entfalten, weil sich eine Inflationspsychologie herausbildet welche sich verfestigt. Auch in der Eurozone gibt es Anzeichen für einen solchen Übergang.

Was meinen Sie damit?

Ein Beispiel ist, dass es in einigen Ländern wie Spanien mehr Klauseln zur Inflationsindexierung in den neuen Tarifverträgen gibt. Ein weiterer Punkt, auf den man achten sollte, sind Forderungen nach einer stärkeren Zentralisierung der Lohnverhandlungen. Das wäre ein Zeichen für eine stärkere Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer. Das kann das Risiko einer Lohn-Preis Spirale erhöhen, wo die Löhne auf die Preise aufschliessen und die Preise wiederum auf die Löhne.

Wie schätzen Sie das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ein?

Es besteht vor allem dann, wenn die Löhne schneller steigen als die Produktivität. Solange das nicht geschieht, entsteht keine dauerhafte Inflation.

In der Eurozone ist das bisher nicht der Fall.

Das ist zwar richtig, aber es ist dennoch wichtig, proaktiv zu handeln, bevor eine solche Situation eintritt. Sobald solche Zweitrundeneffekte auftreten, also Preissteigerungen als Reaktion auf vorausgegangene Kostensteigerungen, wird es wesentlich schwieriger, die Inflation wieder in den Griff zu bekommen.

Auch in Europa fordern Arbeitnehmer und Gewerkschaften höhere Löhne. Lassen sich Zweitrundeneffekte überhaupt noch stoppen?

Es ist klar, dass die großen Kaufkraftverluste, die wir gesehen haben, wahrscheinlich Aufholeffekte auslösen werden, und dies kann an sich schon inflationär sein. Deswegen ist es notwendig dass die Zentralbanken rechtzeitig und entschlossen handeln, was sie auch in der Tat tun.

Warum haben die Notenbanken die Inflation so sehr unterschätzt? Die Rohstoffpreise steigen doch bereits seit einiger Zeit.

Auch wir waren von den Entwicklungen überrascht. Was wir und andere nicht erwartet haben, ist die starke Erholung der Nachfrage, die anhaltende Verlagerung des Konsums von Dienstleistungen hin zu Gütern und die Stärke und Persistenz von Lieferengpässen.

Nahezu alle Notenbanken lagen bei der Prognose der Inflation falsch.

Ein Grund für das Unterschätzen könnte sein, dass in den klassischen Inflationsmodellen steigende Rohstoff- und Energiepreise als temporäre externe Faktoren angesehen werden, welche sich wieder von selbst auflösen und nur einen zeitweiligen Einfluss auf die Inflation haben. Das passiert aber nur, wenn sie wirklich einmalige Effekte repräsentieren und nicht auf eine höhere globale Nachfrage zurückzuführen sind.

Welche Rolle spielt der Krieg in der Ukraine?

Die damit verbundenen globalen Angebotsschocks haben die ohnehin schwierige Situation noch verschärft. Sie haben zu einem weiteren Preisanstieg bei Agrarprodukten, Nahrungsmitteln und Energie geführt. Bis zu diesem Punkt war der Inflationsanstieg vor allem auf eine höhere Nachfrage zurückzuführen was es dem Angebot schwierig machte Schritt zu halten. Notenbanken fällt es schwerer mit den durch den Krieg ausgelösten Schocks fertig zu werden, weil sie global stagflationär wirken. Sie drücken die volkswirtschaftliche Produktion und erhöhen die Inflation.

Was bedeutet das alles für die Inflationsaussichten: Müssen wir uns auch längerfristig auf eine höhere Inflation einstellen?

Viele strukturelle Faktoren, die dazu beigetragen haben, die Inflation niedrig zu halten, kehren sich um. Der wichtigste Faktor ist die Globalisierung. Wir sehen Anzeichen, dass sich die Globalisierung möglicherweise umkehrt, teilweise aufgrund geopolitischer Erwägungen. Ein weiterer möglicher Faktor ist die Demografie: Die Zahl der Erwerbspersonen schrumpft im Verhältnis zur Nachfrage und zum Konsumniveau. Diese bislang tendenziell preisdämpfend wirkenden Faktoren könnten inflationär werden.

Eine höhere Inflation zwingt die Notenbanken auf der ganzen Welt, die Zinsen zu erhöhen. Wie wirkt sich das auf die Staatsverschuldung aus?

Die Verschuldung des öffentlichen Sektors ist auf dem höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Da sich die Zinsen auf historisch niedrigem Niveau befanden, fühlte sich die Bedienung dieser Schulden gleichzeitig noch nie so leicht an. Wenn die Zinsen wieder auf das Niveau von Mitte der 1990er Jahre steigen würden, was ein vernünftiges Niveau war, dann würden die Lasten für den Schuldendienst auf einen historischen Höchststand steigen. Die Regierungen werden also die Zinserhöhungen der Zentralbanken spüren.

Die Regierungen haben viel mehr langfristige Schuldtitel ausgegeben. Hilft ihnen das, mit der Schuldenlast fertig zu werden?

Das Problem dabei ist, dass in den größten Industrieländern die Zentralbanken einen Großteil der Staatsschulden gekauft haben. Dadurch entstehen Einlagen der Banken bei ihnen. Steigen die Zinsen, müssen diese Einlagen höher verzinst werden. Das wiederum reduziert die Gewinne der Notenbanken und führt dazu, dass diese weniger an den Staat ausschütten. Dadurch sind die Staatsfinanzen anfälliger für steigende Zinsen, als es den Anschein hat.

In der Corona-Pandemie haben Geld- und Finanzpolitik in dieselbe Richtung gearbeitet. Hört das jetzt auf?

Durch Zinserhöhungen übt die Geldpolitik Druck auf die Staatsfinanzen aus. Das war unvermeidlich. In Zukunft werden wir mehr Spannungen sehen als in der Vergangenheit.