Volatilität und Liquiditätsschwund während der Achterbahnfahrt am deutschen Staatsanleihemarkt

BIS Quarterly Review  |  September 2015  | 
13. September 2015

(Auszug S. 13-15 des Kapitels "Schwächen in aufstrebenden Volkswirtschaften rücken in den Vordergrund" des BIZ-Quartalsberichts vom September 2015) 

Im Mai und Juni 2015 schoss die Volatilität am Markt für deutsche Staatsanleihen in die Höhe (Grafik A links oben). Dabei kletterte die anhand der täglichen Höchst- und Tiefstpreise berechnete historische Volatilität im Juni auf den höchsten Stand seit vier Jahren. Die Messgrössen für die Innertagesvolatilität liessen sogar noch stärkere Spannungen erkennen (Grafik A rechts oben). 1 Bundesanleihen mit sehr langer Laufzeit wiesen die höchsten Innertagesschwankungen auf; kürzer laufende Papiere waren ebenfalls, wenn auch in geringerem Masse, betroffen.2 Die Innertagesdaten entstammen der Interdealer-Plattform von EuroMTS, der wichtigsten elektronischen Grosskunden-Handelsplattform für deutsche Staatsanleihen.

Ein besonderes Rätsel stellte der plötzliche Volatilitätsausbruch am deutschen Staatsanleihemarkt am 7. Mai 2015 dar. Am Tag dieser „Achterbahnfahrt" schnellten die Renditen langfristiger Bundesanleihen im Verlauf des Handelstages um 21 Basispunkte auf 80 Basispunkte hoch, schlossen dann aber auf ähnlichem Niveau wie am Vortag, nämlich bei 59 Basispunkten. Wenngleich die Dynamik eine andere war, wiesen diese grossen Innertagesschwankungen gewisse Ähnlichkeiten mit der „Flash Rally" vom 15. Oktober 2014 am US-Staats­anleihemarkt auf. Damals sackten die Renditen plötzlich um fast 30 Basispunkte ab und erholten sich dann bis zum Handelsschluss wieder. Anders als der kräftige Anstieg deutscher Staatsanleiherenditen am 3. Juni, der auf die Veröffentlichung einer Mitteilung der EZB zu den Konjunkturaussichten im Euro-Raum folgte und eine Neubewertung der Inflationseinschätzungen nach sich zog, schien der Markteinbruch vom 7. Mai nicht mit konkreten Datenveröffentlichungen zusammenzuhängen. Ein Auslöser könnte jedoch die Auflösung von Positionen stark fremdfinanzierter direktionaler Anleger an den Märkten für festverzinsliche Derivate gewesen sein. In Erwartung des Wertpapierankaufprogramms der EZB war es bei Handelsgeschäften, die auf einen anhaltenden Zinsrückgang spekulierten, einigen Berichten zufolge zu einer gewissen Häufung gekommen. In einem solchen Umfeld könnten sogar relativ unbedeutende Meldungen ausreichen, um die Marktrichtung umzukehren.

Als Erklärung für die derart volatile Preisentwicklung an den Rentenmärkten wird vielfach vorgebracht, dass sich die Marktliquidität verschlechtert habe.3 Tatsächlich untermauern Messgrössen der Marktliquidität auf Basis fester, sofort handelbarer Preise die Einschätzung, dass die gestiegene Volatilität zumindest teilweise auf eine angespannte Liquiditätslage am Markt zurückzuführen war.4 In der Zeit des beschriebenen plötzlichen Volatilitätsausbruchs nahmen die Kosten sofort durchführbarer Transaktionen am deutschen Staatsanleihemarkt zu. Dass sich die Kosten für den zeitgleichen Kauf und Verkauf bei kleinen Geschäften erhöhten, zeigte sich an der Ausweitung der Geld-Brief-Spanne (Grafik A links unten), die die Differenz zwischen dem besten verfügbaren Kaufpreis (Bid) und dem besten verfügbaren Verkaufspreis (Offer) angibt und als Abstand zum Mittelkurs in Basispunkten ausgedrückt wird. Bei den sehr langfristigen Anleihen (mit einer Restlaufzeit von mehr als 12½ Jahren) verschlechterte sich die Marktliquidität am stärksten; hier verdoppelte sich die relative Geld-Brief-Spanne von 40 auf rund 80 Basispunkte. Als die Pressemitteilung zur Geldpolitik der EZB am 3. Juni 2015 erschien, schnellte diese Spanne erneut in die Höhe. Um die Veröffentlichungstermine preisrelevanter Informationen ist allerdings mit einer gewissen Ausweitung der Geld-Brief-Spannen zu rechnen, da die Intermediäre die notierten Preise anheben, um dem höheren Risiko Rechnung zu tragen, dass sich der Markt gegen ihre Interessen entwickelt.

Eine aufschlussreichere Messgrösse der Liquidität an diesem Markt ist die Orderbuchtiefe (Grafik A rechts unten), die im Betrachtungszeitraum ebenfalls Anzeichen einer Verschlechterung aufwies. Sie gibt das Gesamtvolumen an, das für sofortige Transaktionen zum besten erzielbaren Kauf- und Verkaufspreis verfügbar ist. Bei geringer Orderbuchtiefe können selbst kleine Anstiege des Handelsvolumens grosse Preisschwankungen verursachen. Im ersten Halbjahr 2015 war die Orderbuchtiefe für deutsche Staatsanleihen gering und fragil, was Preisveränderungen verstärken kann. Am meisten verringerte sie sich bei den sehr langen Laufzeiten. Hier sank die Tiefe der sofort ausführbaren Order im betrachteten 6-Monats-Zeitraum um mehr als ein Drittel, von € 25 Mio. auf rund € 16 Mio. Bei geringerer Tiefe wird es schwierig, umfangreichere Geschäfte ohne Einfluss auf die Preise auszuführen; grosse Transaktionen können dann zu Volatilitätsspitzen führen, wie sie im Mai und Juni 2015 zu beobachten waren.


Die allgemeine Liquiditätsverringerung am deutschen Staatsanleihemarkt dürfte mehrere Ursachen gehabt haben. Zum einen bauen die Intermediäre ihre Vorratsbestände an festverzinslichen Wertpapieren bereits seit einiger Zeit tendenziell ab (siehe z.B. Ausschuss für das weltweite Finanzsystem, „Market-making and proprietary trading: industry trends, drivers and policy implications", CGFS Papers, Nr. 52, November 2014). Zum anderen sind einige Beobachter der Auffassung, dass sich das Angebot an handelbaren deutschen Staatsanleihen, das aufgrund des relativ geringen Emissionsvolumens an den Primärmärkten bereits recht knapp gewesen war, durch das von der EZB Anfang 2015 aufgelegte Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (PSPP) weiter verringert haben könnte.5 Am Stichtag 30. Juni hatte die EZB deutsche Staatsanleihen im Wert von insgesamt € 46,3 Mrd. und damit rund 6 % des Gesamtvolumens an PSPP-fähigen deutschen Papieren angekauft. Dadurch standen entsprechend weniger Staatsanleihen für den Handel durch Intermediäre zur Verfügung.6 Offenbar hat sich die Tiefe der deutschen Anleihemärkte vor allem um die Zeit der Ankündigung des PSPP verringert und ist zu Beginn der Ankäufe sowie im Anschluss daran weiter geschrumpft. Am stärksten und nachhaltigsten hat sich die Liquidität allerdings bei den sehr langen Laufzeiten verringert. Allerdings wurden im Rahmen des PSPP keine grossen Mengen an sehr langfristigen Staatsanleihen angekauft, weshalb auch andere Faktoren wie z.B. die begrenzte Risikokapazität der Intermediäre zu dieser Verringerung beigetragen haben könnten.


1 Die Indikatoren werden anhand der während der üblichen Handelszeiten (8:00 Uhr bis 17:30 Uhr) erteilten Limit-Order für Referenzanleihen errechnet.   

2 Anleihen mit einer Restlaufzeit von 2,5 bis 7,5 Jahren gelten als mittelfristig, Papiere mit einer Restlaufzeit von >7,5 bis ≤12,5 Jahren als langfristig und mit einer Restlaufzeit von > 12,5 Jahren als sehr langfristig.    

3 Die Marktliquidität gilt allgemein als Indikator dafür, wie leicht ein Wertpapier gekauft oder veräussert werden kann, ohne den Preis des Vermögenswerts zu beeinflussen. Damit unterscheidet sie sich von der Finanzierungsliquidität, die anzeigt, wie leicht Anleger Finanzmittel für Engagements in risikobehafteten Vermögenswerten aufnehmen können (siehe M. Brunnermeier und L. Pedersen, „Market liquidity and funding liquidity", Review of Financial Studies, Nr. 22(6), 2009, S. 2201-2238).    

4 Die beiden hier erörterten Messgrössen der Liquidität, die Geld-Brief-Spanne und die Orderbuchtiefe bei bestem Kauf- und Verkaufspreis, sind direkt aus den vorliegenden Daten ablesbar und im Verlauf des Handelstags kontinuierlich verfügbar. Sie stellen die realisierbare Liquidität am Gesamtmarkt dar.    

5 Am 22. Januar 2015 gab die EZB ihr Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (PSPP) bekannt, das vom 9. März 2015 bis mindestens September 2016 Wertpapierankäufe in Höhe von monatlich rund € 60 Mrd. vorsieht.    

6 Die gewichtete durchschnittliche Restlaufzeit der von der EZB im Rahmen des PSPP gehaltenen deutschen Staatsanleihen beträgt rund 6,78 Jahre, siehe www.ecb.europa.eu/mopo/implement/omt/html/index.en.html.