Wie beeinflusst die US-Geldpolitik die Leitzinssätze in aufstrebenden Volkswirtschaften?

(Auszug S. 10-11 des Kapitels "Aufstrebende Volkswirtschaften reagieren auf Marktdruck" des BIZ-Quartalsberichts vom März 2014)

Die Geldpolitik der fortgeschrittenen Volkswirtschaften, insbesondere der USA, hat offenbar erheblichen Einfluss auf die Durchführung der Geldpolitik in vielen aufstrebenden Volkswirtschaften. Im Laufe des weltweiten „Strebens nach Rendite" waren viele aufstrebende Volkswirtschaften besorgt, die grossen Zinsdifferenzen gegenüber den fortgeschrittenen Volkswirtschaften würden destabilisierende Kapitalzuflüsse und eine Überbewertung ihrer Währungen nach sich ziehen. In den letzten Jahren scheinen die Leitzinsen dieser Länder deswegen auf einem niedrigeren Niveau gehalten worden zu sein, als dies allein aufgrund der inländischen Rahmenbedingungen zu erwarten gewesen wäre. Umgekehrt hat der Beginn der Normalisierung der US-Geldpolitik bereits zu Anpassungen von Leitzinsen nach oben geführt. Verstärkt wurde dieser Trend noch durch einen Umschwung in der Anlegerstimmung, eine Umkehr der Kapitalströme und starken Abwertungsdruck auf die Währungen.

Die Faktoren, die der Entwicklung der Leitzinsen in den aufstrebenden Volkswirtschaften zugrunde liegen, lassen sich z.B. durch Schätzung einer Taylor-Gleichung beurteilen. Die ursprüngliche Taylor-Formel verwendet zwei nationale Variablen zur Erklärung der Leitzinsen: die Inflation (bzw. die Abweichung vom Inflationsziel) und die Produktionslücke. Der Grundgedanke ist einfach: Bei einer antizyklischen Geldpolitik sollten die Leitzinsen erhöht werden, wenn die Inflation steigt oder sich die Wirtschaft überhitzt, und sie sollten gesenkt werden, wenn die Inflation rückläufig ist oder die Produktion unter dem Produktionspotenzial liegt. In der vorliegenden Untersuchung wird diese ursprüngliche Taylor-Formel mit einem weiteren Term ergänzt, um den Einfluss der US-Geldpolitik zu berücksichtigen. 1 Für jede aufstrebende Volkswirtschaft (EME) wird formell die nachstehende Gleichung geschätzt:

wobei rEME den Leitzins der betreffenden aufstrebenden Volkswirtschaft, π die Inflationsrate und y die Produktionslücke darstellt; rUS steht für den „Schattenleitzins" der USA.2 Wie üblich symbolisiert e den Fehlerterm und t den Quartalsindex. Die Stichprobe umfasst 20 aufstrebende Volkswirtschaften und deckt den Zeitraum vom ersten Quartal 2000 bis zum dritten Quartal 2013 ab.

Die Ergebnisse bestätigen, dass diese erweiterte Taylor-Formel weitgehend die tatsächliche Leitzinsentwicklung in den aufstrebenden Volkwirtschaften wiedergibt, die Regression also recht gut auf die beobachteten Leitzinsen passt. Sie bestätigen überdies, dass neben den inländischen Rahmenbedingungen die US-Geldpolitik einen erheblichen Einfluss ausübt: Die mit dem Parameter γ erfasste US-Geldpolitik ist für die meisten aufstrebenden Volkswirtschaften (16 von 20) statistisch signifikant. Insbesondere zeigen die Ergebnisse, dass in diesen Ländern der Leitzins durch die Geldpolitik der USA seit 2012 im Schnitt um 150 Basispunkte gedrückt worden ist (rote Linie in Grafik A links), wobei allerdings eine grosse Heterogenität zwischen den verschiedenen Ländern und im Zeitverlauf (blau schattierte Fläche) zu beobachten ist. Dies deckt sich mit den Ergebnissen aktueller Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass die Geldpolitik in den aufstrebenden Volkswirtschaften tendenziell akkommodierender gewesen ist als durch die Taylor-Regel vorgegeben.3 Beispielsweise lagen die Leitzinsen der aufstrebenden Volkswirtschaften Ende 2013, nach den Anpassungen infolge der Verkaufswelle vom Mai, im Schnitt tendenziell noch immer 50 Basispunkte unter den durch die nationalen Variablen der Taylor-Formel angezeigten Werten (rote Linie im linken Balken von Grafik A rechts). Die jüngste geldpolitische Straffung in den aufstrebenden Volkswirt­schaften hat im Durchschnitt zu einer Verringerung dieser Lücke beigetragen (rote Linie im rechten Balken). Hinter diesen Durchschnittswerten verbirgt sich jedoch eine starke Zunahme der Bandbreite (blaue Balken), was auf eine Reihe plötzlicher, konzentrierter Verschiebungen statt eine breit angelegte Anpassung des Zinsniveaus hinweist.

Ein Vergleich von Leitzinsen mit einer einfachen Benchmark ist allerdings mit Vorsicht zu interpretieren. Die Messung nicht beobachtbarer Variablen wie z.B. der Produktionslücke ist naturgemäss schwierig. Selbst der Leitzins ist nicht unbedingt eine akkurate Messgrösse der monetären Lage, weil sich die aufstrebenden Volkswirtschaften zunehmend zinsunabhängiger geldpolitischer Massnahmen und makroprudenzieller Instrumente bedient haben, um auf die monetären Bedingungen Einfluss zu nehmen. Zudem dürften die Ergebnisse zwar für die Stichprobe der aufstrebenden Volkswirtschaften als Gesamtgruppe repräsentativ sein, aber nicht auf jedes einzelne Land zutreffen. Abgesehen davon scheint der Befund ungewöhnlich akkommodierender Bedingungen in den aufstrebenden Volkswirtschaften jedoch recht robust. Er würde auch bei Verwendung anderer Benchmarks wie der Wachstumsrate der Volkswirtschaften gültig bleiben. Und er stimmt überein mit der Präsenz eines kräftigen Kredit- und Vermögenspreisbooms in mehreren Ländern. Insbesondere lassen aktuelle Untersuchungen vermuten, dass das Produktionspotenzial tendenziell überschätzt wird, wenn ein solcher Boom im Gang ist.4

 

1 Nähere Einzelheiten zur Schätzung finden sich in E. Takáts und A. Vela, „International monetary policy transmission", BIS Papers, das demnächst erscheint und auf Anfrage erhältlich ist. Das Papier zeigt auf, dass die ursprüngliche Taylor-Formel die Leitzinsentwicklung in den meisten aufstrebenden Volkswirtschaften nicht vollständig erfasst und sich die Schätzungen durch Einbeziehung einer Messgrösse für den US-Leitzins erheblich verbessern lassen.

2 Der Schattenleitzins wurde entwickelt, um dem Einfluss der unkonventionellen geldpoli­tischen Massnahmen der USA nach Erreichen der Nullzinsgrenze Rechnung zu tragen; siehe M. Lombardi und F. Zhu, „Filling the gap: a factor based shadow rate to gauge monetary policy", Mimeo, 2014. Natürlich kann der Schattenzins auch negativ sein.

3 Siehe auch B. Hofmann und B. Bogdanova, „Taylor rules and monetary policy: a global 'Great Deviation'?" (nur in Englisch verfügbar), BIZ-Quartals­bericht, September 2012.

4 C. Borio, P. Disyatat und M. Juselius, „Rethinking potential output: embedding information about the financial cycle", BIS Working Papers, Nr. 404, Februar 2013.