BIZ-Jahresbericht 2016 - Medienorientierung

Kommentare von Claudio Borio | Kommentare von Hyun Song Shin

On-the-Record-Kommentare von Claudio Borio, Leiter der Währungs- und Wirtschaftsabteilung, 22. Juni 2016

Ereignisse sind wichtig, aber wie sie beschrieben werden, ist ebenfalls von Bedeutung. Nehmen wir den Ausdruck „sehr schwache anhaltende Erholung", mit dem die derzeitige Lage der Weltwirtschaft gewöhnlich umschrieben wird. Er suggeriert, dass die Wirtschaft noch immer weit von normalen Wachstumsraten oder Arbeitslosenquoten entfernt ist, dass ein großer konjunktureller Rückstand aufzuholen ist und dass „normale Werte" diejenigen sind, die unmittelbar vor der Krise verzeichnet wurden. Tatsächlich lag das globale Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr nahe seinem historischen Durchschnittswert - pro Person im erwerbsfähigen Alter gemessen sogar leicht darüber. Auch die Arbeitslosenquoten sanken weiter, in vielen Fällen beinahe auf langfristige Durchschnittswerte. Es ist empirisch belegbar, dass die Wirtschaft nach einer Finanzkrise wieder zu ihrer vorherigen langfristigen Wachstumsrate zurückfinden kann. Die Erwartung, dass sie auch auf den vor der Krise verzeichneten Wachstumspfad zurückkehrt, ist jedoch unrealistisch. Vor diesem Hintergrund von einer „sehr schwachen anhaltenden Erholung" zu sprechen wird der effektiven Entwicklung der Weltwirtschaft seit der Krise nicht wirklich gerecht.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Übergang zu einem robusten, ausgewogenen und nachhaltigen Wachstum gelungen ist. Es gibt beunruhigende Entwicklungen, eine „riskante Dreierkonstellation" sozusagen, die im Auge behalten werden sollte: ein ungewöhnlich niedriges Produktivitätswachstum, das die Hoffnung auf künftige Verbesserungen des Lebensstandards trübt, globale Schuldenstände von historisch nie dagewesenem Ausmaß, die ein Risiko für die Finanzstabilität darstellen, und ein äußerst enger wirtschaftspolitischer Handlungsspielraum, der die Weltwirtschaft höchst anfällig macht.

Es herrscht also ein gewisses Unbehagen, das am deutlichsten in dem neuerlichen Rückgang der ohnehin außerordentlich und anhaltend niedrigen nominalen und inflationsbereinigten Zinsen zum Ausdruck kommt. Im vergangenen Jahr haben einige Zentralbanken die Leitzinsen sogar in den negativen Bereich gesenkt. Mitte Juni 2016 wurden Staatsanleihen im Wert von fast $ 9 Bio. mit negativen Renditen gehandelt - ein neuer Rekordwert, nachdem zuvor bereits beispiellose $ 2 Bio. verzeichnet worden waren. Die Grenzen des Undenkbaren werden immer weiter ausgedehnt.

Natürlich entstand die riskante Dreierkonstellation nicht über Nacht, sondern hat sich allmählich gebildet und verfestigt. Das Produktivitätswachstum verändert sich im Zeitlupentempo, die Verschuldung baut sich sukzessive auf, und der enge Handlungsspielraum ist das Ergebnis einer langen Reihe Schritt für Schritt getroffener Maßnahmen. Wir sprechen hier von Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten.

Aus diesem Grund ist die weltwirtschaftliche Entwicklung, wie in früheren BIZ-Jahresberichten betont, aus einer langfristigen Perspektive heraus zu betrachten. Dabei sind finanzielle Faktoren von zentraler Bedeutung. Die Hypothese, die wir aufgestellt und in diesem Jahresbericht weiterentwickelt haben, besagt, dass die gegenwärtige Malaise zu einem großen Teil auf das Unvermögen zurückzuführen ist, enorm kostspielige finanzielle Auf- und Abschwünge in den Griff zu bekommen. Diese sogenannten Finanzzyklen haben das Wirtschaftsgefüge auf lange Sicht geschädigt und erschweren die Rückkehr zur Normalität.

Diese Sichtweise hilft uns, die jüngsten Szenen dieses langen Films besser zu verstehen - nämlich die wirtschaftliche Anpassung, die im Berichtszeitraum auf breiter Basis eingesetzt hat. In einer Reihe von aufstrebenden Volkswirtschaften, nicht zuletzt in China, wo sich das Wachstum verlangsamt hat, steuern die inländischen Finanzzyklen auf ihren Höhepunkt zu oder haben ihn bereits überschritten. Bei den Rohstoffen, insbesondere beim Öl, sind die Preise gefallen. Der US-Dollar hat aufgewertet, vor allem gegenüber den Währungen aufstrebender Volkswirtschaften, als die Federal Reserve die Normalisierung der Geldpolitik einläutete, während andere wichtige Zentralbanken weitere Lockerungen vornahmen. Aufgrund der globalen Liquiditätsverknappung schließlich haben sich die Finanzierungsbedingungen außerhalb der USA für all jene verschärft, die hohe Schulden in US-Dollar aufgenommen haben. Hyun wird gleich mehr dazu sagen.

Diese Entwicklungen treffen uns nicht als isolierte Blitze aus heiterem Himmel, sondern sind Teil einer unvermeidlichen und notwendigen Anpassung, der dieselben Kräfte zugrunde liegen, die die Weltwirtschaft seit vielen Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten prägen. Ökonomen würden sagen: Relevant sind nicht nur die Schocks, sondern vielmehr die zugrundeliegenden Bestandsgrößen, das bereits Bestehende.

Eine entscheidende Bestandsgröße ist die Verschuldung. Sie steht im Mittelpunkt der inländischen Finanzzyklen seit der Krise: Während der private Sektor in den von der Krise betroffenen fortgeschrittenen Volkswirtschaften schrittweise Schulden abgebaut hat, kam es andernorts, vor allem in den aufstrebenden Volkswirtschaften, zu einem unbekümmerten Schuldenaufbau, der Erinnerungen an die Finanzbooms vor der Großen Finanzkrise weckte. Es war auch die Schuldenaufnahme, im In- und im Ausland, die den Rohstoffboom und den Wirtschaftsaufschwung in den aufstrebenden Volkswirtschaften befeuerte. Und es war die Verschuldung in Fremdwährung, zumeist in US-Dollar, die außerhalb der USA massiv zunahm, als die Federal Reserve ihren außerordentlich lockeren geldpolitischen Kurs fortsetzte und es zu einer Dollarabwertung kam. Der Anpassungsprozess führte zu einer teilweisen Umkehr dieser Entwicklungen, allerdings ist er seit den Finanzmarktturbulenzen von Anfang 2016 etwas ins Stocken geraten.

In diesem allgemeinen Rahmen konzentriert sich der vorliegende Jahresbericht auf einige spezifische Themen.

Erstens wird untersucht, wie robust Marktliquidität ist. Diese Liquidität versiegt unweigerlich bei schwerwiegenden Marktanspannungen. Das Risiko, dass solche Spannungen überhaupt entstehen und das Finanzsystem schädigen, wird am wirksamsten begrenzt, indem die Finanzintermediäre gestärkt werden. Besser gewappnete Intermediäre sorgen für robustere Marktliquidität.

Zweitens werden die jüngsten Fortschritte beim Abschluss der Reformen des Finanzsystems beleuchtet, mit besonderem Augenmerk auf Basel III und seinen gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen. Die Fertigstellung von Basel III ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass das Finanzsystem widerstandsfähig ist, nicht nur während der Anpassung nach der Krise, sondern auch in fernerer Zukunft, und dass es die Realwirtschaft unterstützen kann. Ausreichend kapitalisierte Banken sind der Eckpfeiler einer gut funktionierenden Wirtschaft. Stärkere Banken vergeben mehr Kredit.

Drittens ist ein ganzes Kapitel des Jahresberichts der Frage gewidmet, wie die Fiskalpolitik zu einem wesentlichen Bestandteil des makrofinanziellen Stabilitätskonzepts für die Nachkrisenzeit werden kann, dessen Ziel es ist, finanziellen Auf- und Abschwüngen systematischer zu begegnen und Stabilität ganz allgemein zu fördern. Voraussetzung dafür ist, dass der Staat vor den Risiken des Finanzsystems und das Finanzsystem vor dem Ausfallrisiko des Staates geschützt wird. Diesem Punkt wird nicht gebührend Rechnung getragen.

Viertens schließlich enthält der Jahresbericht weitere empirische Untersuchungen zu den Vorzügen und Hauptmerkmalen einer finanzstabilitätsorientierten Geldpolitik. Damit die Geldpolitik den erhofften Nutzen bringen kann, muss sie den Finanzzyklus systematisch berücksichtigen, im Auf- ebenso wie im Abschwung, damit sich die finanzielle Seite der Wirtschaft im Lot befindet. Dies würde ihren derzeitigen Fokus auf Inflation ergänzen. Geld- und Finanzstabilität gehören eng zusammen.

Doch was ist nun zu tun? Eine wirtschaftspolitische Neuausrichtung ist dringend nötig, damit der Übergang zu einem robusteren, ausgewogenen und nachhaltigen Wachstum gelingt. Wir dürfen nicht mehr länger auf das schuldenfinanzierte Wachstumsmodell setzen, das die gegenwärtige Situation herbeigeführt hat. Eine Entlastung der Geldpolitik, der viel zu lange zu viel aufgebürdet wurde, ist unerlässlich. Dies bedeutet, die Reformen des Finanzsystems abzuschließen, den verfügbaren fiskalpolitischen Spielraum sorgfältig zu nutzen und gleichzeitig die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sicherzustellen. Vor allem aber bedeutet es, Strukturreformen voranzutreiben. All diese Maßnahmen sollten Teil der Anstrengungen sein, ein wirksames makrofinanzielles Stabilitätskonzept auszuarbeiten, das es erlaubt, den Finanzzyklus besser in den Griff zu bekommen. Dabei ist eine konsequent langfristige Ausrichtung von größter Bedeutung. Es sind dringend Maßnahmen erforderlich, die wir nicht wieder bereuen, wenn die Zukunft zur Gegenwart wird.

On-the-Record-Kommentare von Hyun Song Shin, Volkswirtschaftlicher Berater und Leiter Wirtschaftsforschung, 22. Juni 2016

Gegenwärtig erleben wir eine breit angelegte Anpassung der Weltwirtschaft, jetzt da in den aufstrebenden Volkswirtschaften der Schuldenzyklus seinem Höhepunkt zusteuert. Gleichzeitig folgt das Auf und Ab an den Rohstoff- und Finanzmärkten den Schwankungen der globalen Liquiditätsbedingungen. Es ist verlockend, diese Entwicklungen als isolierte Schocks zu betrachten. Sie sind aber vielmehr Symptome für eine Veränderung der zugrundeliegenden Bedingungen: Die bevorstehende Wende des Schuldenzyklus in den aufstrebenden Volkswirtschaften führt zu einer Anpassung der Kräfte, die die Weltwirtschaft prägen. Wer von Schocks redet, dem sagen wir: Sprechen wir lieber über das bereits Bestehende, die zugrundeliegenden Bestandsgrößen.

Die globale Anpassung schlägt sich in den Wachstumsraten insbesondere der aufstrebenden Volkswirtschaften und in den Rohstoffpreisen nieder. Am stärksten kommt sie allerdings in der deutlichen Korrektur der Wechselkurse, vor allem der Währungen aufstrebender Volkswirtschaften gegenüber dem US-Dollar, zum Ausdruck. Diese Wechselkursanpassungen sind nicht nur Symptom des Anpassungsprozesses, sie beschleunigen ihn auch.

In unserem Jahresbericht werden diese beiden Aspekte der Wechselkursanpassungen erläutert, und es wird gezeigt, wie sie über zwei Kanäle auf die Realwirtschaft durchschlagen.

Der erste Kanal bezieht sich auf die traditionelle Rolle des Wechselkurses als automatischer Stabilisator in der Handelsbilanz: Eine Währungsabwertung verbilligt die Exporte und verteuert die Importe des betreffenden Landes, es kommt zu einer Steigerung der Nettoexporte, und das BIP zieht an.

Es gibt allerdings auch einen zweiten, finanziellen Kanal. Dieser wirkt genau in die entgegengesetzte Richtung zum Handelskanal und kommt in den Bestandsveränderungen der Fremdwährungsschulden zum Ausdruck. Seit der globalen Finanzkrise ist dies ein wichtiger Kanal des wirtschaftlichen Anpassungsprozesses. Zu beobachten ist seine Wirkung seit rund eineinhalb Jahren, in denen beim Aufbau von Fremdwährungsverbindlichkeiten allmählich eine Umkehr stattgefunden hat. Hier bei der BIZ nennen wir diesen zweiten Übertragungsweg den „Risikoübernahmekanal des Wechselkurses".

In der Schuldenaufbauphase stärkt eine Aufwertung der Landeswährung die Bilanzen all jener, die sich in Fremdwährung verschuldet haben. Unternehmensinvestitionen stützen die Realwirtschaft, und die bessere Kreditwürdigkeit dieser Schuldner macht sie zum attraktiven Anlageziel für globale Investoren. Dadurch kommt es zu einem Anstieg der Verschuldung des privaten Sektors. In dieser Phase sind auch die Rohstoffpreise hoch. Von Öleinnahmen abhängige Staaten verzeichnen eine Verbesserung ihrer Haushaltssalden und erhöhen infolgedessen ihre Ausgaben. Wenn alle diese Entwicklungen zusammentreffen, wirkt eine Währungsaufwertung expansiv.

Jetzt aber, da der Zyklus seinen Höhepunkt überschritten hat, dämpfen genau jene Kräfte die Wirtschaft, die sie zuvor gemeinsam stimulierten. Wie lange der Anpassungsprozess dauern und welche Kosten er verursachen wird, hängt letzten Endes davon ab, wie groß die Bestandsgrößen sind, vor allem die Bestände an Fremdwährungsverbindlichkeiten von Schuldnern in aufstrebenden Volkswirtschaften. Wechselkurskorrekturen sind nicht nur Symptom des Anpassungsprozesses, sie beschleunigen ihn auch.

Der vorliegende Jahresbericht enthält eine tiefergehende Analyse dieser beiden Aspekte der Wechselkursentwicklungen. So wird etwa die enge Verbindung zwischen dem Wert des Dollars und der grenzüberschreitenden Bankkreditvergabe in US-Dollar beleuchtet. Als Faustregel gilt: Ein Wertverlust des Dollars um 1% geht mit einem Anstieg der vierteljährlichen Wachstumsrate der grenzüberschreitenden Kreditvergabe in US-Dollar um 0,6 Prozentpunkte einher. Es gibt auch Implikationen für die Renditenaufschläge auf Staatsschuldtitel aufstrebender Volkswirtschaften: Wenn die Landeswährung aufwertet, sinken die Renditen von Staatsanleihen in Landeswährung. Währungsaufwertungen und lockerere Finanzierungsbedingungen sind also sowohl hinsichtlich Quantität als auch hinsichtlich Preis eng miteinander verbunden. Im Abschwung geht eine Abwertung der Landeswährung mit restriktiveren Finanzierungsbedingungen einher.

Anhand einer detaillierten Analyse des Zusammenhangs zwischen BIP-Wachstum und Wechselkursentwicklung (Kasten III.B in Kapitel III) wird gezeigt, dass die beiden Aspekte der Wechselkursentwicklungen entgegengesetzte Effekte auf das BIP-Wachstum haben.

Beim handelsgewichteten Wechselkurs, der für den Handelskanal steht, wirkt eine Aufwertung erwartungsgemäß konjunkturdämpfend.

Hingegen wirkt der mit der Auslandsverschuldung gewichtete Wechselkurs, d.h. der gewichtete Durchschnitt des Wechselkurses gegenüber den wichtigsten Währungen im Verhältnis zur Auslandsverschuldung, in entgegengesetzter Richtung zum Handelskanal. Eine Währungsaufwertung stimuliert das Wachstum, eine Abwertung wirkt dämpfend. Bezeichnenderweise ist dieser Effekt nur in den aufstrebenden Volkswirtschaften eindeutig nachweisbar. In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist er statistisch nicht signifikant.

Ferner sind die Auswirkungen einer Währungsaufwertung auf das Wachstum in den aufstrebenden Volkswirtschaften kurzfristig ausgeprägter als auf lange Sicht. Die konjunkturstimulierende Wirkung aus dem Finanzkanal dürfte also auf kurze Sicht eine starke zyklische Komponente aufweisen, die keine anhaltenden Produktionsgewinne bringt. Diese Beobachtungen stehen mit dem Boom und der jüngsten Wachstumsverlangsamung in den aufstrebenden Volkswirtschaften im Einklang. Es bestätigt sich einmal mehr, dass auch den Bestandsgrößen, nicht nur den Stromgrößen Beachtung geschenkt werden muss. Wenn also versucht wird, die Konjunktur durch einen weiteren Aufbau der bereits hohen Schuldenstände anzukurbeln, führt dies dazu, dass künftige Anpassungen noch schwieriger werden.

Kurz gesagt: Reden wir nicht über Schocks - sprechen wir lieber über das bereits Bestehende. Ein Abbau des Überhangs an Fremdwährungsschulden würde in den aufstrebenden Volkswirtschaften zu einer besseren gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beitragen.