Volatilitätskonzepte und die Risikoprämie

BIS Quarterly Review  |  September 2014  | 
14. September 2014

(Auszug S. 11-12 des Kapitels "Weltweite Statistiken zu Wohnimmobilienpreisen" des BIZ-Quartalsberichts vom September 2014)

Im Finanzbereich ist die Volatilität ein Gradmesser für die Schwankungsbreite von Vermögenspreisen (oder Renditen von Vermögenswerten) im Zeitverlauf. Es handelt sich um ein Konzept mit vielen Facetten, und in der Praxis werden unterschiedliche Volatilitätsmessgrössen verwendet, die sich grob in zwei Kategorien unterteilen lassen: statistische Volatilität (d.h. die Volatilität der tatsächlichen Renditeverteilung) und implizite Volatilität (d.h. die aus Optionspreisen abgeleitete Renditevolatilität).

Statistische Volatilitätsmessgrössen basieren auf den über einen bestimmten Zeitraum hinweg beobachteten Renditen von Vermögenswerten. Sie lassen sich auf verschiedene Weise berechnen. Ein einfacher, nicht modellbasierter Ansatz besteht darin, die Standardabweichung der tatsächlichen Rendite eines bestimmten Vermögenswerts über ein vorgegebenes Zeitfenster zu ermitteln. Die so berechnete Messgrösse wird als realisierte (oder „historische") Volatilität bezeichnet.1 Darüber hinaus gibt es modellbasierte Ansätzewie z.B. ARCH-Modelle (ARCH = autoregressive conditional heteroscedasticity), die auf der Annahme basieren, dass die Renditevarianz im Zeitverlauf gemäss einem bestimmten Zeitreihenmodell schwankt.2

Die implizite Volatilität wird hingegen aus Optionspreisen ermittelt und basiert somit auf Informationen über die Erwartungen der Marktteilnehmer zur künftigen Preisentwicklung des Basiswerts sowie über ihre Bereitschaft, das betreffende Risiko einzugehen.3 Das bekannteste Beispiel ist der Volatilitätsindex VIX, der eine nicht modellbasierte Messgrösse der impliziten Volatilität des S&P 500 liefert. Berechnet wird der VIX aus den Optionsprämien einer Vielzahl von Calls und Puts mit einer Restlaufzeit von 30 Tagen und einer breiten Spanne von Ausübungspreisen.4

Durch einen Vergleich der impliziten und der statistischen Volatilität lässt sich die Volatilitätsrisikoprämie ermitteln. Diese Prämie kann als die Entschädigung betrachtet werden, die Anleger dafür verlangen, dass sie das Risiko starker Veränderungen der Marktvolatilität übernehmen. Zur Ermittlung dieser Prämie wird häufig die implizite Volatilität (z.B. gemessen am VIX) mit einer Projektion der realisierten Volatilität über denselben Zeithorizont verglichen. Bekaert et al. (2013; s. Grafik A, Fussnote 3) beispielsweise schlagen einen einfachen Ansatz zur Schätzung der erwarteten realisierten Volatilität über ein Zeitfenster von einem Monat vor und argumentieren, dass die Differenz zwischen der impliziten und der projizierten realisierten Volatilität als Näherungswert für die Risikoneigung der Anleger betrachtet werden kann. Die rote und die blaue Linie in Grafik A links zeigen die implizite bzw. die projizierte realisierte Volatilität an, und der grün schraffierte Bereich stellt die zeitvariable Risikoaversion dar.5 Wenn die Volatilität in Stressphasen in die Höhe schnellt, sinkt in der Regel die Risikoneigung der Anleger, da sie weniger gewillt sind, risikoreiche Aktiva zu halten oder eine Absicherung gegen starke Vermögenspreisänderungen zu stellen. Interessanterweise haben sich die Schätzungen der Volatilitätsrisikoprämie seit Mitte 2012 recht stark verringert und befinden sich inzwischen wieder in der Nähe des vor der Krise verzeichneten Niveaus.

Einer bekannten empirischen Regelmässigkeit zufolge ist die Volatilität tendenziell negativ mit den gegenwärtigen und vergangenen Vermögensrenditen korreliert. Das bedeutet, dass die Volatilität in der Regel viel höher ist, wenn die Vermögenspreise fallen, als wenn sie sich im Höhenflug befinden. Traditionell wird diese asymmetrische Beziehung mit der sog. Hebelwirkung erklärt.6 Demnach impliziert ein Aktienkursrückgang generell einen Anstieg des Fremdkapitalanteils eines Unternehmens und erhöht damit den Risikogehalt der betreffenden Aktie. Eine alternative Erklärung ergibt sich aus der negativen Korrelation zwischen der Volatilität und der Veränderung der Risikoneigung: Da eine niedrige Volatilität mit einer verstärkten Bereitschaft zur Risikoübernahme einhergeht, dürfte es in einem Umfeld geringer Volatilität zu steigenden Bewertungen von Aktiva kommen.7

Jüngere wirtschaftstheoretische Untersuchungen betonen den endogenen Charakter der Volatilität.Eine längere Phase niedriger Volatilität könnte paradoxerweise den Aufbau von Risiken begünstigen.9 Dies kann erstens über die Auswirkungen von Volatilitätsänderungen auf Messgrössen wie Value-at-Risk (VaR) oder Sharpe-Quotient erfolgen, die Finanzintermediäre bei Risikoübernahmeentscheidungen und im Risikomanagement verbreitet einsetzen. Bei einem gegebenen VaR-Grenzwert steigt im Falle geringer Volatilität der Portfolioanteil, den Finanzinstitute in risikoreichen Papieren anlegen können. Ähnlich kann eine niedrigere Volatilität bei vorgegebenem Portfolioprofil und Eigenkapitalbetrag auch eine Aufstockung des Fremdmittelanteils zur Finanzierung eines grösseren Anlageportfolios begünstigen. Zweitens kann Herdenverhalten bei Kapitalanlagegesellschaften und ähnlichen Nichtbank-Investoren zum Aufbau von Risiken in einem von niedriger Volatilität geprägten Umfeld beitragen.10 Wenn die Marktteilnehmer davon ausgehen, dass die Finanzierungsbedingungen günstig bleiben und die niedrige Volatilität anhält, könnten sie geneigt sein, grosse Positionen in risikoreicheren Anlagekategorien einzugehen, wodurch die Risikoprämien weiter unter Druck geraten.

Zudem gibt es Anzeichen für eine verstärkte Spekulation auf Volatilität. Aus Grafik A geht hervor, dass sich das Volumen der von „non-commercial traders" (z.B. Spekulanten wie Hedgefonds) gehaltenen Netto-Short-Positionen auf VIX-Futures - d.h. Wetten, dass die Volatilität gering bleiben wird - seit Mitte 2012 vor dem Hintergrund der niedrigen Volatilität am Markt stark erhöht hat. Die Grafik legt ausserdem nahe, dass die Händler solche Short-Positionen während der Marktverwerfungen nach der Ankündigung der Federal Reserve Mitte 2013, ihre Anleiheankäufe allmählich zu drosseln, während der Marktturbulenzen Anfang 2014 und zuletzt während des Volatilitätsschubs Ende Juli/Anfang August 2014 jeweils rasch zurückfuhren.

 

1 Wenn Hochfrequenzdaten (z.B. mit einer Intervalldauer von fünf Minuten) zur Verfügung stehen, erweist sich die realisierte Volatilität als hochgradig akkurater Indikator der Diffusionskomponente des stochastischen Prozesses, der der Preisentwicklung des Vermögenswerts zugrunde liegt. (Anderson et al. 2003, op. cit.).

2 Die Preisbildung von Optionen basiert auf dem Grundsatz der Arbitragefreiheit. Um dies zu gewährleisten, muss die Preisentwicklung des Basiswerts der Option in einen „risikoneutralen "Rahmen überführt werden, in dem die Übergangswahrscheinlichkeiten, die als Parameter für diese Basiswertentwicklung gelten, um die Risikoneigung der Anleger bereinigt werden. Insofern unterscheiden sich diese „risikoneutralen "Wahrscheinlichkeiten von den „physikalischen"Wahrscheinlichkeiten, die der Entwicklung der beobachteten Rendite des Basiswerts zugrunde liegen.

3 Siehe R. Engle, „Autoregressive conditional heteroscedasticity with estimates of the variance of United Kingdom inflation", Econometrica, Vol. 50, 1982, S. 987-1007.

4 Aktuelle Veröffentlichungen betonen zudem, dass die implizite Volatilität teilweise die Risikotragfähigkeit der als Intermediäre am Optionsmarkt agierenden Händler widerspiegeln könnte (z.B. N. Gârleanu, L. Pedersen und A. Poteshman, „Demand-based option pricing", Review of Financial Studies, Vol. 22, 2009, S. 4259-4299).

5 Manche Marktteilnehmer verwenden für die Risikoneigung der Anleger auch den Begriff „Risikoappetit". Der Terminus „Risikoaversion "ist technischer und bezeichnet mitunter die grundlegende Risikopräferenz von Marktakteuren.

6 Siehe F. Black, „Studies of stock price volatility changes", Proceedings of the 1976 Meetings of the American Statistical Association, Business and Economic Statistics Section, 1976, S. 177-181.

7 Diese Interpretation der beobachteten negativen Korrelation zwischen Volatilität und Vermögensrendite wurde erstmals vorgebracht von R. Pindyck, „Risk, inflation and the stock market", American Economic Review, Vol. 74, 1984, S. 335-351.

8 Siehe z.B. H. S. Shin, Risk and liquidity, Oxford University Press, 2010, sowie T. Adrian und N. Boyarchenko, „Intermediary leverage cycles and financial stability", Federal Reserve Bank of New York, Staff Reports, Nr. 576, August 2012.

9 Dies wird u.a. als „Paradoxon der Finanzinstabilität"oder „Volatilitätsparadoxon" bezeichnet. Siehe C. Borio und M. Drehmann, „Towards an operational framework for financial stability: 'fuzzy' measurement and its consequences", BIS Working Papers, Nr. 284, Juni 2009, sowie M. Brunnermeier und Y. Sannikov, „A macroeconomic model with a financial sector", American Economic Review, Vol. 104, Nr. 2, 2014.

10 Siehe K. Miyajima und I. Shim, „Asset managers in emerging market economies" (nur in Englisch verfügbar), BIZ-Quartalsbericht, September 2014.