Ansprache des Präsident der BIZ anlässlich der ordentlichen Generalversammlung der Bank

Ansprache von Nout Wellink

Präsident der BIZ und Vorsitzender des Verwaltungsrats

anlässlich der ordentlichen Generalversammlung der Bank am 28. Juni 2004 in Basel

Meine Damen und Herren

Es ist mir eine große Ehre und ein Vergnügen, diese Sitzung zu eröffnen und Sie alle herzlich willkommen zu heißen: die Delegierten unserer Mitgliedszentralbanken, die Vertreter anderer Zentralbanken und internationaler Organisationen sowie unsere hohen Gäste, u.a. aus der Bank- und Finanzwelt.

Wie in den Vorjahren wird es zwei Ansprachen geben: zunächst einen Kommentar zur Weltwirtschaft und dann einen Bericht über die Entwicklungen bei der BIZ, den Ihnen der Generaldirektor der Bank, Malcolm Knight, vorstellt.

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Lassen Sie mich mit einem Rückblick auf die Weltwirtschaft beginnen, die sich - entgegen den Befürchtungen von vor einem Jahr - sehr positiv entwickelt hat. Die aktuellen Prognosen gehen davon aus, dass sie im Jahr 2004 um 4½% expandieren wird; das ist die höchste Wachstumsrate seit 2000. Wieder einmal gingen die stärksten Impulse von den USA aus, doch ein wichtiger Wachstumsmotor waren auch die äußerst raschen Fortschritte Chinas im Industrialisierungsprozess. Japan scheint die jahrelange Stagnation endlich überwunden zu haben, und die übrigen Volkswirtschaften in Asien expandieren kräftig. Auch in Lateinamerika und Afrika hat das Wachstum - zum Teil als Folge der lebhafteren Rohstoffnachfrage - an Dynamik gewonnen, und im Euro-Raum signalisieren die jüngsten Daten eine allmähliche Erholung.

Fast auf der ganzen Welt hat das Wirtschaftswachstum seit 2001 die Erwartungen immer wieder übertroffen. Trotz aller Krisen und Anspannungen der letzten drei oder vier Jahre fiel der Konjunkturabschwung im historischen Vergleich verhältnismäßig mild aus. In mehreren Ländern zeichnet sich eine Belebung der Unternehmensinvestitionen ab, was auf Vertrauen in den gegenwärtigen Aufschwung schließen lässt. Weshalb dieses unerwartet positive Ergebnis? Zwei grundlegende Erklärungen sind denkbar - die eine stimmt zuversichtlich, die andere weniger.

Die erste Erklärung liegt ganz einfach in der Globalisierung der Marktkräfte. Ein wachsender Anteil der Wirtschaftstätigkeit wird vom Markt bestimmt. Innerhalb von nur 15 Jahren sind große Planwirtschaften zu Marktwirtschaften geworden, und mehrere stark regulierte aufstrebende Volkswirtschaften haben durchgreifende Reformen vorgenommen. All dies hat eine sehr ausgeprägte, nachhaltige Wachstumsdynamik bewirkt, insbesondere in China, Indien und Russland. In etlichen fortgeschritteneren Ländern haben Arbeitsmarktreformen, die Liberalisierung der Gütermärkte und die Weiterentwicklung der Finanzmärkte zu einem Wachstumsschub geführt.

Die wichtigsten Länder des Euro-Raums hinken mit Reformen allerdings nach, was das Produktivitätswachstum beeinträchtigt hat. Zwar haben mehrere Länder Fortschritte bei der Implementierung des Reformprogramms erzielt, das im März 2000 in Lissabon beschlossen wurde, in anderen besteht jedoch noch großer Handlungsbedarf. Der EU-Beitritt von 10 neuen Mitgliedsländern dürfte einen erheblichen Impuls für den Handel, den Kapitalverkehr sowie die Mobilität der Arbeitskräfte innerhalb Europas liefern. Die damit verbundenen Anpassungskosten sollten nicht den Blick auf den potenziellen Nutzen der größeren Integration verstellen.

Die zweite, weniger zuversichtlich stimmende Erklärung führt das Wachstum der vergangenen Jahre zu einem großen Teil auf äußerst expansive wirtschaftspolitische Maßnahmen zurück, darunter massive fiskalpolitische Impulse in den USA, Leitzinssätze, die in den wichtigsten Ländern seit einiger Zeit auf bzw. nahe dem tiefsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg gehalten werden, sowie beispiellose Devisenmarktinterventionen asiatischer Währungsbehörden. Anders als Strukturreformen sind derartige Maßnahmen zur Konjunkturbelebung nur vorübergehend wirksam, und der gegenwärtige geld- und fiskalpolitische Kurs kann nicht unbegrenzt fortgesetzt werden.

Wenn deutlich wird, dass die Produktion gemessen an der Kapazität zunimmt, werden Straffungen notwendig sein. Eine wesentliche Herausforderung wird darin bestehen, diesen Kurswechsel zu vollziehen, ohne das bisher Erreichte zu gefährden. Dies gilt für die Fiskalpolitik ebenso wie für die Geld- und Währungspolitik.

Zuerst zur Fiskalpolitik. Die Situation der öffentlichen Haushalte hat sich in den vergangenen Jahren praktisch überall auf der Welt verschlechtert, und in vielen Fällen gingen die in den neunziger Jahren fast durchgängig verzeichneten Fortschritte wieder verloren. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Industrieländer. Der US-Haushaltssaldo, der im Jahr 2000 gemessen am BIP einen Überschuss von 1½% aufwies, wird in diesem Jahr voraussichtlich ein Defizit von 5% des BIP verzeichnen. Eine derartige Verschlechterung der öffentlichen Haushaltslage gab es in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. In Japan liegt das Defizit der öffentlichen Haushalte weiterhin bei etwa 8% des BIP. In einigen großen Ländern des Euro-Raums übersteigt das Haushaltsdefizit nach wie vor die Obergrenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Unverzügliche Schritte, diese Defizite zurückzuführen, sind umso wichtiger, als die Aufwendungen für die staatlichen Verpflichtungen aus dem gegenwärtigen Gesundheits- und Rentensystem in nahezu allen Industrieländern mittelfristig drastisch steigen werden.

In den aufstrebenden Volkswirtschaften tendiert die öffentliche Gesamtverschuldung trotz Bemühungen zur Begrenzung der Haushaltsdefizite noch immer nach oben und übersteigt inzwischen 50% des BIP. Überdies sind mehrere Regierungen mit beträchtlichen Eventualverbindlichkeiten im Zusammenhang mit potenziellen Verlusten von staatseigenen Unternehmen oder Banken konfrontiert. In anderen Fällen setzen hohe Fremdwährungsverbindlichkeiten die Schuldner dem Wechselkursrisiko aus.

Beunruhigenderweise sind Haushaltsdefizite und Schuldenstände in einem Umfeld gestiegen, das normalerweise eine fiskalpolitische Konsolidierung erleichtert. So sind die Zinssätze gesunken, und einige rohstoffexportierende Länder verzeichneten unerwartete Haushaltseinnahmen, da die Rohstoffpreise rasant stiegen. In vielen Volkswirtschaften sind die Haushaltsdefizite mittlerweile zu hoch, als dass sich die Verschuldungsquoten auch nur stabilisieren ließen. Früher oder später wird dadurch zwangsläufig ein Aufwärtsdruck auf die langfristigen Zinssätze entstehen, und aus diesem Grund ist eine glaubwürdige mittelfristige Strategie zur Verringerung der Schulden unerlässlich. Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang die jüngste Lockerung der fiskalpolitischen Regeln und Richtlinien in Europa, den USA und andernorts.

Nun zur Geldpolitik. Es zeichnet sich derzeit kein allgemeiner Preisauftrieb ab, der eine beträchtliche geldpolitische Straffung erfordern würde. Die relativ hohe Arbeitslosigkeit begrenzt die Erhöhung der Nominallöhne, und die niedrige Kapazitätsauslastung in der verarbeitenden Industrie weltweit verstärkt den wettbewerbsbedingten Abwärtsdruck auf die Preise. Am wichtigsten ist vielleicht, dass die klare Ausrichtung der Geldpolitik an der Inflationsbegrenzung in allen Teilen der Welt durch die seit mehr als einem Jahrzehnt rückläufigen Inflationsraten an Glaubwürdigkeit gewonnen hat. Es gibt jedoch Anzeichen für ein allmähliches Steigen der Inflation. Ein Vergleich der Renditen nominaler und inflationsindexierter Anleihen in den USA lässt auf eine leichte Aufwärtstendenz der Inflationserwartungen schließen. Japan überwindet langsam die Phase der Deflation. Der Verbraucherpreisanstieg in China hat sich in den vergangenen Monaten deutlich beschleunigt, und auch in einigen anderen asiatischen Volkswirtschaften gibt es Hinweise auf einen stärker einsetzenden Preisauftrieb.

Der zügige Anstieg der Rohstoffpreise ist vielleicht die sichtbarste Bedrohung für die weltweite Preisstabilität. Rohöl wurde in den letzten Wochen für 35-40 US-Dollar je Barrel gehandelt, und die Terminmärkte zeigen an, dass vorerst weiterhin hohe Preise erwartet werden. Die Preise anderer Rohstoffe liegen ebenfalls deutlich höher - in der Tat sind praktisch alle bedeutenden Rohstoffe in den letzten beiden Jahren spürbar teurer geworden. Die Entwicklung der Rohstoffpreise ist daher sehr sorgfältig zu beobachten.

Bei manchen Rohstoffen scheint der Preisauftrieb dadurch beschleunigt worden zu sein, dass in einige Zweige der Grundstoffindustrie kaum investiert wurde. Ein zweiter Einflussfaktor ist die lebhafte weltweite Nachfrage. Die rasche Expansion der Industrie in China hat den Bedarf an einer ganzen Reihe von Rohstoffen erhöht. Dies dürfte sich auf mittlere Sicht fortsetzen und könnte das Rohstoffpreisniveau im Verhältnis zu anderen Preisen in den nächsten Jahren anheben. Ob diese Veränderung der relativen Preise zu einer allgemeinen Inflation führt, hängt im Wesentlichen von der Geldpolitik und dem weltweiten Nachfragedruck ab.

Finanzinnovationen und andere Entwicklungen im internationalen Finanzsektor haben die globale Nachfrage belebt. In vielen Ländern ist das Angebot an Krediten für die privaten Haushalte gewachsen, während deren Kosten teilweise reduziert wurden. Niedrige Zinsen auf Staatsanleihen haben einige Anleger veranlasst, nach höher verzinslichen Instrumenten Ausschau zu halten. Die Anleger engagieren sich in verschiedenen Carry Trades, d.h. sie leihen sich günstig kurzfristige Mittel aus, um den Erwerb längerfristiger oder spekulativerer Titel zu finanzieren. Diese Risikoengagements zu quantifizieren ist schwierig, aber die Geschäftsberichte der wichtigsten Investmentbanken legen nahe, dass die Anfälligkeit gegenüber dem Zinsänderungsrisiko seit Mitte 2002 stark angestiegen ist. Fest steht auch, dass die Aktivität der Hedge-Fonds wieder rasch zunimmt. Kurzum, das Zusammenwirken einer lockeren Geldpolitik und einer größeren Bereitschaft des Finanzsektors, sowohl Markt- als auch Kreditrisiken einzugehen, hatte beträchtlichen Einfluss auf die Realwirtschaft.

Die Finanzmärkte wissen, dass die Geldpolitik bei einer sich belebenden Weltwirtschaft weniger akkommodierend werden muss. Im April und Mai dieses Jahres steuerten Anzeichen eines stärkeren Wachstums und zunehmende Erwartungen einer Anhebung der US-Leitzinsen einen vollen Prozentpunkt zur Rendite von US-Schatztiteln bei. Die Zinsaufschläge auf Titel aufstrebender Volkswirtschaften erhöhten sich kräftig, und auch bei den Unternehmensanleihen mit niedrigerem Rating kam es zu einer - etwas moderateren - Anpassung. Mit Fremdmitteln operierende Anleger reagierten, indem sie Positionen glattstellten oder absicherten, wodurch der Rückgang der Anleihekurse verstärkt wurde. Die Markt- und Kreditrisiken des Finanzsektors werden eine Zeit lang sorgfältig überwacht werden müssen.

Neben der Fiskal- und der Geldpolitik ist ein dritter Aspekt der jüngsten Wirtschaftspolitik von globaler Bedeutung: die massiven Interventionen zur Abwendung von Währungsaufwertungen. Die offiziellen Währungsreserven in Asien stiegen im Jahr 2003 um rund 480 Mrd. US-Dollar an. Interventionen solchen Ausmaßes hat es in der Geschichte bisher nicht gegeben, und über die längerfristigen Auswirkungen lässt sich nur spekulieren. Eine mögliche Folge ist, dass sich die Wechselkurse nunmehr abrupter verändern, als wenn zuvor größere Flexibilität zugelassen worden wäre. Die Anpassung könnte besonders schmerzhaft sein, wenn falsche Signale zu einer Fehlallokation von Ressourcen geführt haben. Außerdem könnte die zunehmende Präsenz der asiatischen Währungsbehörden an den Märkten für erstklassige US-Dollar-Anleihen die Preisbildung in den verschiedenen Marktsegmenten beeinflussen. Denkbar ist auch, dass die mit einer solchen Währungspolitik verbundene Ausweitung der inländischen Liquidität letztlich zu Inflation führt. Schließlich könnten die Märkte zu stark von den anhaltenden Interventionen abhängig und dann bereits durch kleinste Anzeichen eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels verunsichert werden. Daher war es beruhigend, dass es den japanischen Währungsbehörden gelang, ihre massiven Interventionen ab März dieses Jahres für längere Zeit einzustellen, ohne dass es an den Devisenmärkten zu Volatilität kam.

Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Korrektur der weltweiten Ungleichgewichte sowohlfiskalpolitische Anpassungen in den USA als auch ein höheres Wachstum in Europa und eine größere Wechselkursflexibilität in Asien erfordern wird. China spielt natürlich eine Schlüsselrolle. Es ist kein Geheimnis, dass der wachsende Handel innerhalb Asiens, bei dem China zunehmend als Dreh- und Angelpunkt fungiert, die Bereitschaft zur Stabilisierung der Crossrates in der Region stärkt. China hat seit einiger Zeit die Notwendigkeit einer mittelfristigen Wechselkursanpassung erkannt. Aber es ist zu Recht darauf bedacht, jegliche überstürzte Handlung zu vermeiden, die sein fragiles Finanzsystem destabilisieren oder seine dynamische Wirtschaft allzu sehr dämpfen könnte. Die Herausforderung besteht darin, brauchbare Übergangsstrategien zu entwickeln, die sowohl für einen effektiveren Wechselkursmechanismus als auch für ein flexibleres geldpolitisches Kontrollinstrument sorgen.

Die zunehmende Integration Chinas und Indiens in die Weltwirtschaft ist Chance und Herausforderung zugleich. Die Chancen zeigen sich vielleicht am deutlichsten an der breiten Palette an günstig in China hergestellten Konsumgütern, die inzwischen überall in den Geschäften erhältlich sind. Die Herausforderung liegt auf der Hand. Aufgrund des enormen zusätzlichen Angebots an Arbeitskräften in der internationalen Wirtschaft könnte das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit weltweit sinken, und dies könnte auf die Löhne drücken. Die nicht ausgebildeten Arbeitskräfte dürften davon am härtesten getroffen werden. Die Regierungen müssen sich natürlich dem Druck widersetzen, die Importe einzuschränken. Vielmehr sollten sie sich bemühen, die Anpassungsfähigkeit der lokalen Produktionsstruktur zu erhöhen, um von einer dynamischeren Weltwirtschaft profitieren zu können.

Lassen Sie mich diesen Rückblick auf die Entwicklung der Weltwirtschaft mit einer optimistischen Note und zwei mahnenden Anmerkungen schließen
- vielleicht die richtige Mischung für einen Zentralbanker. Die optimistische Note ist, dass die Wirtschaftsaussichten gegenwärtig ausgezeichnet sind
- nicht nur, weil sich das Wachstum weltweit belebt hat, sondern auch, weil die globale Produktivität mit der Integration von immer mehr Menschen in die Marktwirtschaft steigt. Die erste mahnende Anmerkung ist, dass die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik nicht so expansiv bleiben kann, wenn mittelfristig stabile Verhältnisse gewahrt werden sollen. In einigen Ländern muss mit einer Neuorientierung der Wirtschaftspolitik begonnen werden. Die zweite mahnende Anmerkung ist, dass die weltweiten Ungleichgewichte früher oder später abgebaut werden müssen. Dabei sollten die beiden Extreme - die Anpassungslast ausschließlich auf die Wechselkurse zu übertragen oder aber keinerlei Wechselkursbewegungen zuzulassen - vermieden werden.

Die kräftigen Ausschläge an den Finanzmärkten während der letzten Monate haben uns gelehrt, dass die Anleger sehr schnell auf jeden Hinweis reagieren, dass sich die Markterwartungen bezüglich der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik verändern. Risiken, die derzeit vielleicht erst mittelfristig relevant scheinen, könnten allzu schnell akut werden und den Handlungsspielraum der Wirtschaftspolitik erheblich einengen. Solche Fragen stehen natürlich im Zentrum der Diskussionen der Zentralbanken bei der BIZ. Ich hoffe, dass diese Diskussionen die internationale Kooperationsbereitschaft weiter stärken, die angesichts der zunehmenden Globalisierung nötiger ist denn je.

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Und nun, meine Damen und Herren, übergebe ich an Malcolm Knight, der über die Entwicklungen bei der BIZ im Laufe des letzten Jahres berichten wird. Vielen Dank.